Filmbildende Amine: Auskochen und Ausblasen von Kesselsystemen
- Björn Otto
- 11. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Zusammenfassung Das Auskochen und Ausblasen sind essenzielle Schritte bei der Inbetriebsetzung neuer oder erneuerter Kesselsysteme. Diese Reinigungsverfahren dienen der Entfernung von Rückständen und der Vorbereitung metallischer Oberflächen auf einen sicheren und zuverlässigen Betrieb. Während traditionell alkalische Lösungen zum Einsatz kamen, gewinnen filmbildende Amine (FFAs) zunehmend an Bedeutung – dank ihrer Reinigungswirkung, Umweltverträglichkeit und der Fähigkeit, direkt während des Prozesses einen wirksamen Korrosionsschutz zu bilden. Dieser Beitrag stellt bewährte Vorgehensweisen für den Einsatz von FFAs beim Auskochen und Ausblasen vor, erläutert die Vorteile gegenüber konventionellen Methoden und liefert Einblicke aus realen Anwendungsfällen bei unterschiedlichen Kesseltypen und Druckniveaus.
Einleitung Auskochen und Ausblasen sind mehr als nur Routineaufgaben – sie schaffen die Grundlage für einen störungsfreien und sicheren Anlagenbetrieb. Neue oder überarbeitete Kesselanlagen enthalten vor dem ersten Anfahren häufig Rückstände wie Rost, Öl, Fette oder Produktionsrückstände. Ohne eine gezielte Reinigung gelangen diese Verunreinigungen in den Wasser-Dampf-Kreislauf – mit potenziell schweren Folgen, insbesondere für Dampfturbinen.
Traditionell setzte man auf alkalische Lösungen mit stark wirkenden Chemikalien wie Natriumphosphat. Doch moderne Ansätze greifen zunehmend auf filmbildende Amine zurück, die Reinigungsleistung mit sofortigem Korrosionsschutz verbinden – ein Plus für Sicherheit, Nachhaltigkeit und Effizienz in der Inbetriebnahme.
Diese Ausgabe von ODACON Insights zeigt auf, wie FFAs praxisnah beim Auskochen und Ausblasen eingesetzt werden können.
Warum filmbildende Amine? Beim Einsatz filmbildender Amine eröffnen sich neue Perspektiven für die Kesselreinigung. Während klassische Verfahren auf hohe Alkalität setzen – wirksam, aber schwer zu handhaben und umwelttechnisch problematisch – bieten FFAs einen grundlegend anderen Ansatz: effizient, sicher und zugleich schützend.
FFAs entfalten ihre Wirkung auch bei neutralem pH-Wert. Sie entfernen locker anhaftende Eisenoxide, Ölrückstände und Verunreinigungen aus dem Fertigungsprozess – ganz ohne alkalische Chemikalien und nachgelagerte Neutralisationsschritte. Das vereinfacht die Handhabung, senkt Risiken für das Betriebspersonal und reduziert die Umweltbelastung spürbar.
Gleichzeitig wird bereits während der Reinigung ein Korrosionsschutz aufgebaut: Die FFAs bilden auf allen benetzten Metalloberflächen eine hydrophobe Schutzschicht – Molekül für Molekül. Dieser Film verhindert effektiv neue Korrosionsansätze, insbesondere in der sensiblen Phase zwischen Reinigung und endgültiger Inbetriebnahme.
Ein weiterer Vorteil ist ihre Dampfflüchtigkeit. Bereits durch ein Ausdampfen während des Auskochens gelangen die FFAs in den Dampfbereich, lagern sich in den Dampfleitungen ab und beginnen dort mit dem Schutzschichtaufbau. Dieser „Pre-Coating-Effekt“ minimiert die Erosion während des Dampfblasens – mit dem Ergebnis: weniger Ausblasevorgänge, kürzere Dauer und ein stabiler Anfahrprozess.
Auch aus ökologischer Sicht punkten FFAs. Die meisten Formulierungen sind biologisch abbaubar, phosphatfrei und nicht toxisch – problemlos einleitbar und leicht in bestehende Wasserbehandlungskonzepte integrierbar. Auch wirtschaftlich rechnet sich der Einsatz: geringerer Chemikalienverbrauch, weniger Energiebedarf, reduzierte Wassermengen.

Anwendungshinweise
Vorbereitung ist alles Erfolgreiches Auskochen mit FFAs beginnt mit sorgfältiger Planung. Neben chemischem Know-how braucht es ein gutes Verständnis für die betrieblichen Gegebenheiten vor Ort.
Zunächst das Fundament: Eine ausreichende Versorgung mit vollentsalztem Wasser muss verfügbar sein – ob über eine bereits betriebene Wasseraufbereitungsanlage oder über eine temporäre Versorgung. Auch die Heizstrategie ist entscheidend: Falls keine internen Brenner zur Verfügung stehen, werden externe Brenner benötigt – inklusive Brennstofflagerung und -versorgung.
Frühzeitig sollte auch die Ableitung des Spülwassers geklärt sein. Obwohl der Einsatz von FFAs die Notwendigkeit der Neutralisation erheblich reduziert, können standortspezifische Grenzwerte – etwa zur Temperatur oder zu Einleitparametern – Anforderungen stellen, die frühzeitig berücksichtigt werden müssen.
Was die Messtechnik betrifft: Eisenhaltiges, partikelbeladenes Wasser kann empfindliche Online-Analysatoren beschädigen. Daher empfiehlt es sich, während der Reinigung auf manuelle Proben, Trübungsmessungen oder Leitfähigkeitswerte zurückzugreifen.
Die Dosierung selbst erfordert eine durchdachte Einbindung. Eine stabile, kontinuierliche Zufuhr – idealerweise in die Kesseltrommel oder in Bereiche mit einer guten Zirkulation – gewährleistet eine gleichmäßige Verteilung. Gegebenenfalls sind Anpassungen an der Rohrleitung nötig, um Dosierstellen, Pumpen und Chemikalienlager effizient zu integrieren.
Ist im Anschluss ein Ausblasen geplant, müssen Bypasslösungen für die Dampfableitungen und Schallschutzmaßnahmen vorbereitet werden.
Als technische Grundlage empfiehlt sich hier die Richtlinie VGB-S-513, die sowohl das Spülen, die chemische Reinigung als auch das Auskochen und Ausblasen umfassend behandelt.
In der Praxis
Das Auskochen beginnt mit einer mechanischen Spülung des Kessels. Dies kann mit Leitungswasser erfolgen. Ziel ist es, grobe Partikel, Schweißrückstände und andere unerwünschte Verunreinigungen zu entfernen. Nach dem vollständigen Ablassen ist das System bereit für den Aukochprozess.
Je nach Möglichkeit wird der Kessel mit kaltem oder vorgeheiztem Wasser befüllt und anschließend schonend aufgeheizt. Viele Hersteller geben hierzu ein Stufenheizprotokoll vor – zur Trocknung feuerfester Auskleidungen und zur Vermeidung thermischer Spannungen. Diese Vorgaben sollten exakt eingehalten werden.
Sobald eine Wassertemperatur von mindestens 60 °C erreicht ist, beginnt die Dosierung der FFAs. Diese Schwelle ist entscheidend: Bei niedrigeren Temperaturen droht lokale Übersättigung oder Ausfällung. Ab 60 °C hingegen lösen sich die FFAs zuverlässig und verteilen sich gleichmäßig. Die Zielkonzentration liegt zwischen 1,5 und 2,0 ppm (aktive Substanz).
Gibt es keine Vorgaben des Kesselbauers, wird der Kessel auf etwa 150 °C gebracht und für 8 bis 12 Stunden gehalten. Diese Haltezeit sorgt für eine vollständige Verteilung der FFAs und erlaubt die Ausbildung eines geschlossenen Schutzfilms. Gegen Ende der Prozedur wird der Wasserstand auf das Maximum erhöht – eine leichte Überfüllung hilft dabei, alle Flächen vollständig zu benetzen. Um die Konzentration trotz Verdünnung konstant zu halten, erfolgt eine Nachdosierung.
Sind während des Auskochens bereits Dampfventile geöffnet, gelangen die FFAs auch in die Dampfleitungen, kondensieren dort und bilden erste Schutzschichten. So wird der Materialabtrag beim anschließenden Ausblasen reduziert und der Reinigungsaufwand gesenkt.
Nach Ablauf der Haltezeit wird das System möglichst heiß abgelassen, um Rückstände zu entfernen. Die Wasserqualität wird über Trübung, Leitfähigkeit oder TOC überprüft. In der Regel genügt ein Wiederholzyklus, um die gewünschte Sauberkeit zu erreichen. Nur bei stark verschmutzten Systemen ist ein dritter Durchlauf erforderlich – was in der Praxis jedoch selten vorkommt.

Praxisbeispiele Niederdruckkessel in einem Krankenhaus – Neuseeland
Drei Großwasserraumkessel (23 m³/h Dampf) wurden vor Inbetriebnahme mit FFA behandelt. Trotz unterschiedlicher Hersteller und zum Teil starker Verunreinigungen konnten nach zwei Zyklen saubere, hydrophobe Oberflächen erzielt werden. Das zunächst stark getrübte Wasser klärte sich sichtbar, Ablagerungen und Korrosionsrückstände wurden deutlich reduziert.
Biomasse-Heizkraftwerk – Neuseeland
Ein 30-MW-Biomassekessel zeigte nach FFA-Dosierung einen raschen Rückgang der Eisenwerte und Trübung. Die Ausbildung des Schutzfilms war durchgehend stabil, was sich in konstanter Leitfähigkeit und pH-Wert während des gesamten Prozesses widerspiegelte.
Zuckerfabrik – Schweiz
Ein 50-bar-Trommelkessel wurde während des Trocknungsprozesses der feuerfesten Auskleidung behandelt. Da keine Einspeisestellen vorhanden waren, erfolgte die Dosierung direkt über einen modifizierten Trommelanschluss. Trotz dieser improvisierten Lösung wurde eine sehr gute Oberflächenreinigung und chemische Konditionierung ohne Phosphate oder Dispergatoren erreicht.

Fazit
Filmbildende Amine bieten eine leistungsfähige, sichere und umweltfreundliche Alternative zum herkömmlichen alkalischen Auskochen und Ausblasen. Ihre Fähigkeit, Reinigung und Schutz in einem Schritt zu vereinen, vereinfacht die Inbetriebnahme, verkürzt Zeitpläne und erhöht die Betriebssicherheit.
Sowohl bei Großwasserraumkesseln als auch bei Industrie- und Großkesselanlagen – die FFA-basierte Reinigung setzt sich zunehmend als neuer Standard durch. Besonders dort, wo Sicherheit, Flexibilität und Nachhaltigkeit gefragt sind, ist sie die überzeugendere Wahl.
Autor
Ronny Wagner ist Geschäftsführer der REICON Wärmetechnik und Wasserchemie Leipzig GmbH. Als erfahrener Experte für Wasserbehandlung ist er auf den Einsatz filmbildender Amine in Wasser-Dampf-Kreisläufen sowie in geschlossenen Kühl- und Heizsystemen spezialisiert. Mit über 15 Jahren Erfahrung in der Konservierung von Kernkraft-, fossilen und Industrieanlagen hat er entscheidend zur Weiterentwicklung anerkannter Branchenstandards beigetragen. Als aktives Mitglied von vgbe und der IAPWS Power Cycle Chemistry (PCC) Gruppe war er an der Ausarbeitung internationaler Leitlinien für den sicheren und effektiven Einsatz filmbildender Amine in der Kraftwerkschemie beteiligt.